China: Die erste Kulturrevolution 1916 bis 1919

China: Die erste Kulturrevolution 1916 bis 1919
China: Die erste Kulturrevolution 1916 bis 1919
 
Die neue Generation, die sich nach der Revolution von 1911 zu Wort meldete, kannte die chinesische Tradition gut genug, um sie profund kritisieren zu können, hatte aber genügend andere Einflüsse aufgenommen, um über alte kulturelle Selbstverständlichkeiten hinauszublicken. Die ältesten unter den Verfechtern einer Kulturrevolution hatten noch eine klassische Bildung erhalten; danach hatten sie jedoch Japan und das westliche Ausland kennen gelernt. Ein solches Wechselbad der Erfahrungen prägte den Lebensweg des ersten Wortführers der Bewegung, Chen Duxiu, der 1915/16 mit seiner Zeitschrift »Neue Jugend« ein Forum für Intellektuelle schuf, die unter dem Eindruck des Scheiterns der ersten chinesischen Republik standen.
 
Seit etwa 1915 entwickelte sich eine Revolution, die mindestens ebenso tiefe Wirkungen zeitigte wie der Sturz des kaiserlichen Systems: eine Revolution zur Erneuerung der chinesischen Kultur. Schon lange hatten chinesische Gelehrte nach den Ursachen für die Misere ihres Landes und nach Wegen der Abhilfe gefragt. Oberflächliche Kommentatoren schoben die Schuld auf die angeblich inkompetente »Fremdherrschaft« der seit langem sinisierten Mandschus. Andere sahen tiefer: Sie verwiesen wie Kang Youwei auf die Erstarrung einer im Kern reformfähigen konfuzianischen Kultur und analysierten wie Liang Qichao den Imperialismus in seiner Wirkung auf China. Niemand unter den schon vor 1900 tätigen Publizisten trat aber für eine radikale Verwestlichung ein.
 
Der radikale Bruch mit der Tradition
 
Chen Duxiu und seine Mitstreiter, zu denen auch der Schriftsteller Lu Xun gehörte, strebten danach, das Individuum von der Last des Alten und Herkömmlichen zu befreien. Sie wandten sich vordringlich an ihre Schüler und jungen Leser, um ihnen Mut, geistige Neugier und Kreativität nahe zu bringen. Kein Traditionsbestand sollte ungeprüft übernommen werden. Die Autoren der kulturpolitischen Zeitschrift »Neue Jugend« wandten sich gegen politische Privilegien für wenige, gegen den Militarismus der warlords, gegen blinden Gehorsam gegenüber Beamten und Eltern, gegen religiösen »Aberglauben« und gegen die traditionelle Großfamilie der chinesischen Oberschicht. Sie forderten Frauenemanzipation, eine Vereinfachung der überaus komplizierten Schriftsprache und eine volksnähere Literatur. Soziale Forderungen blieben daneben spärlich und allgemein. Die Lage der Bauern geriet kaum ins Blickfeld dieser städtischen Intellektuellen. Einerseits bewunderten die Vertreter dieser Kulturrevolution die klassischen Schriften des europäischen Liberalismus, empfahlen die Einführung repräsentativer Institutionen und propagierten Wissenschaftsideale, die westlichen Ursprungs waren, andererseits verschloss kaum jemand unter ihnen die Augen vor der massiven imperialistischen Präsenz der westlichen Staaten in China.
 
 Das politische Erwachen der chinesischen Nation 1919
 
Die reformorientierten Kräfte hatten am Ende des Ersten Weltkriegs gehofft, die liberalen Großmächte Großbritannien und die USA würden die aggressiveren Imperialisten, besonders Japan, in ihre Schranken weisen. Stattdessen bestätigte die Friedenskonferenz von Versailles Japan den Besitz der von ihm okkupierten Gebiete in der Provinz Shandong. Als die Nachricht von dieser Entscheidung in China eintraf, kannte die Empörung keine Grenzen. Seit dem 4. Mai 1919 richteten sich Protestkundgebungen, Boykottaktionen und Streiks wochenlang gegen die ausländischen Mächte und gegen die Regierung der warlords, die in Versailles kein besseres Ergebnis erzielt hatte. An ihnen beteiligten sich nicht nur Professoren, Studenten und Schüler, sondern auch weite Teile der städtischen Gesellschaft in ganz China. Mit dieser beispiellosen Mobilisierung erreichten die Intellektuellen der »Bewegung für Neue Kultur« eine Massenbasis, von der sie zuvor nicht zu träumen gewagt hatten. Zugleich begann mit dem 4. Mai 1919, einem bis heute im chinesischen Geschichtsbewusstsein geradezu mythischen Datum, die Ära der politischen Artikulation auf der Straße. Politik war nicht länger das Privileg einer kleinen Elite.
 
Die ideologische Spaltung der Kulturrevolution
 
Die Kulturbewegung des Jahres 1919 zerbrach vor allem an Fragen, die die wünschenswerte politische Entwicklung Chinas und die Mittel, dorthin zu gelangen, betrafen. Es bildeten sich im Wesentlichen drei politische Richtungen aus: Den geringsten Einfluss gewannen diejenigen, die trotz der fortdauernden Privilegien der imperialistischen Mächte für eine weit gehende Übernahme angelsächsischer Demokratiemodelle eintraten. Sie ignorierten noch mehr als andere die Probleme des ländlichen China und vermochten nie, sich parteipolitisch zu organisieren. Sie formulierten jedoch deutlicher als ihre Rivalen Forderungen nach Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und tatsächlich repräsentativer Demokratie.
 
Die zweite Richtung war die des Marxismus-Leninismus. Die Schriften von Marx und Engels wurden seit der Jahrhundertwende in vereinzelten chinesischen Übersetzungen bekannt, doch war unter den sozialistischen Strömungen Europas für Chinas Intellektuelle zunächst der Anarchismus bei weitem interessanter. Erst die russische Oktoberrevolution 1917 und die Vierter-Mai-Bewegung von 1919 gaben dem Marxismus Auftrieb. Zum einen lenkte der Massenprotest in China die Aufmerksamkeit der Intellektuellen erstmals auf die industrielle Arbeiterschaft und die soziale Frage. Darüber hatten die Schriften des Marxismus mehr zu sagen als die des europäischen Anarchismus. Zum anderen schien das Regime der Bolschewiki in Russland zu beweisen, dass in einem rückständigen Land durchaus grundlegende Veränderungen möglich waren; vielleicht konnte China von der jungen Sowjetunion mehr lernen als vom Westen und von Japan. Hinzu kam, dass die Sowjetunion der imperialistischen Chinapolitik des Zarismus abschwor und als erste Großmacht die Ansprüche des chinesischen Nationalismus anerkannte — wenngleich mehr auf dem Papier als in der Wirklichkeit. Unter der Führung von Chen Duxiu vollzog ein beträchtlicher Teil der Protagonisten der »Bewegung für Neue Kultur« die Umorientierung zu marxistisch-leninistischen Politikvorstellungen. Russische Berater, von der Kommunistischen Internationale entsandt, förderten diesen Schwenk. Chen Duxiu, wenige Jahre zuvor noch ein Verfechter westlicher Demokratiekonzepte, erklärte sich 1921 bereit, als Generalsekretär der neu gegründeten Kommunistischen Partei Chinas zu amtieren.
 
Die dritte politische Richtung war ein modernisierungswilliger Nationalismus, dessen Ziele Sun Yatsen in seinen letzten Lebensjahren formulierte. Bestimmt von dem Gedanken einer Erziehungsdiktatur, baute er, gestützt auf die Kuo-min-tang, eine Einparteienherrschaft auf, nachdem er sich ab 1919 enttäuscht von den westlichen Mächten abgewandt hatte. Kuo-min-tang und die Kommunistische Partei waren die beiden dynamischsten Kräfte, beide nach dem Prinzip der autoritär geführten, Disziplin fordernden Kaderpartei organisiert. Nur so schien sich der Herrschaft der warlords ein erfolgreicher Widerstand entgegensetzen zu lassen.
 
Sozialgeschichtliche Veränderungen
 
Von der intellektuellen Vielfalt und der unbefangenen Aufbruchstimmung der Jahre zwischen 1915 und 1919 war danach kaum etwas geblieben. Demokratie und Liberalismus waren gescheitert. An die Stelle von Debatten und Utopien trat der bewaffnete Kampf für soziale Revolution und nationale Einheit. Das Bild der Frühphase der chinesischen Republik wäre jedoch unvollständig, überginge man die wichtigen sozialgeschichtlichen Veränderungen. Die Verwandlung von Gelehrten in Intellektuelle, die soziale Aufwertung des Militärs und die Entstehung einer modernen Arbeiterschaft waren begleitet von der Formierung einer chinesischen Bourgeoisie. Besonders zur Zeit des Ersten Weltkriegs, als der Importdruck auf China nachließ, eröffneten sich große Möglichkeiten für ein chinesisches privates Unternehmertum, das sich vor allem in der Textilindustrie engagierte. Das politische Chaos der Warlordherrschaft erschwerte zwar Transport und Handel über Land, ließ aber auch Nischen entstehen, in denen sich wirtschaftliche Privatinitiative frei von staatlicher Gängelung entfalten konnte. Diese neue Bourgeoisie, die sich auch im Bankensektor entwickelte, war kein energisch auf politische Beteiligung pochendes Bürgertum im europäischen Sinne, konnte aber durch jeden mobilisiert werden, der ihr Schutz vor der übermächtigen ausländischen Konkurrenz versprach. Deshalb beteiligten sich Unternehmer und Kaufleute in den treaty ports mit großem Eifer an Boykotten. Diese Bourgeoisie war keine Trägerin von Demokratisierung, doch eine der Stützen jenes Antiimperialismus, der allen politischen Richtungen Chinas gemeinsam war.
 
Prof. Dr. Jürgen Osterhammel, Freiburg
 
Weiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:
 
China: Vom Massenprotest der 20er-Jahre zur japanischen Invasion
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
China: Die Gründung der Republik 1912

Universal-Lexikon. 2012.

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